
Die antihierarchische Zeitverschiebung im Familienportrait
Eines Tages wachte ich mit dem dringenden Bedürfnis auf, meine Halbschwester, meine Großmutter und meine Mutter nebeneinander sehen zu können, und zwar gleichaltrig als junge Mädchen. Meine Halbschwester war 25 Jahre älter als ich, meine Großmutter habe ich nie gekannt, und das einzige was die drei miteinander verband, war ihre ferne Nachfahrin – ich. Alle waren sie schon lange tot.
Auf einem alten Kinderfoto von mir stehe ich neben meiner Mutter und halte ihre Hand. Meine Mutter ist meine Mutter ist meine Mutter. Mein atavistisches Kinder – Ich hält sie in dieser Funktion gefangen wie in einer stummen Burg, aus der kein Laut mehr dringt. Wie traurig, sie war doch noch soviel anderes, ein junges Mädchen mit Sehnsüchten, mit einem klaren neugierigen Forschergeist – hätte ich nicht gerne einmal mit ihr auf Augenhöhe gesprochen? Wie wäre es gewesen, wenn wir als Schwestern aufgewachsen wären? Gibt es denn nicht noch ein anderes Ich, das alt UND jung ist, in jede beliebige Phase seines Lebens wieder eintauchen kann, jederzeit und immer wieder, wenigstens theoretisch? Und wie wäre das vorstellbar?
Für ein Familienportrait pause ich Silhouetten von verschiedenen Fotos ab.
Denn nur die Augenblicke zählen, die wirklich einmal waren: als einmal zum Beispiel mein Vater auf eine gewisse Weise stand, und ein anderes Mal seine Tochter ihren Arm genau soundso hielt, und wieder ein anderes Mal die Silhouette seiner Mutter nur so und nicht anders war, damals vor 150 Jahren, als sie ihren Kopf jemandem zuneigte, für alle Ewigkeit auf dieser Fotografie.
Der Wunsch nach einem Portrait entspringt nicht unbedingt der Eitelkeit, sondern auch dem nagenden Unbehagen eines inneren Gespenstes: Bin ich wirklich? Was soviel heißt wie: bin ich so sichtbar wie die anderen? Und wie sieht eine Welt aus, in der ich mit diesen anderen gesehen werden kann?
Denn je älter ich werde, desto randvoller wird der Speicher mit Bildern und Szenen, in denen ich nicht zu sehen bin. Meine Kameraperspektive ist eine Täuschung, sie stellt mich grundsätzlich in den Mittelpunkt, während sie mich gleichzeitig vor mir verbirgt. Was für ein seltsamer Film das doch ist, dieser Film ohne mich!
Aber hier habe ich alle beisammen – Mutter, Schwester, mich. Jede in ihrem eigenen Moment treffen sie sich wieder, aus unterschiedlichen Zeiten kommend, aber in einem gemeinsamen Raum. Als Bilder sind sie endlich ruhig. Sie lügen nicht, indem sie sprechen, sie irritieren nicht, weil sie sich bewegen, und verschwinden nicht, kaum dass sie auftauchen. Mir persönlich ist das angenehm. Ob es nun abstrakte Blumen oder weiße Gorillas sind, Stoffalten oder das Gesicht meiner Mutter – immer ist es so, dass mich die Sehnsucht packt etwas lange und gründlich anzuschauen, und ich es mir daher verschaffen muss. Ich bin Malerin, und ich male was ich sehen muss.